Kiai -Kraft sammeln

Jan Hermansson, Haninge 1982.
Jan Hermansson, Haninge 1982.


Es war Verkaufstag auf dem Marktplatz in der Stadt und unter allen Ständen und Verkäufern hatte man eine besondere Attraktion eingerichtet. Man hatte eine kleine Meerkatze an einen Pfahl gekettet, und wer seine Geschicklichkeit erproben wollte, sollte einen Speer gegen den Affen werfen. Die Kette, die die Meerkatze an ihrem Platz festhielt, war so lang, dass der Affe frei um den Pfahl laufen konnte. Und jedes Mal, wenn jemand den Speer schwang, schlüpfte jener schnell herum zur Rückseite des Pfahls und entging der Speerspitze. Es spielte keine Rolle, wie schnell der Speer geschleudert wurde oder wie lange der Werfer zielte, bevor er ihn loswarf, — der Affe konnte sich immer hinter dem Pfahl in Schutz bringen.

       Immer mehr Menschen sammelten sich, um die Schnelligkeit der Meerkatze zu bewundern und laut über das Misslingen der anmaßenden Menschen zu lachen. Die Stunden gingen dahin, einer nach dem anderen versuchte es, aber der Affe behielt seine heile Haut. Auch ein junger Schüler des berühmten Lanzenmeisters Jubei Taneda machte einen Versuch, mit ebenso schlechtem Resultat.

       Der Jüngling berichtete seinem Meister von der Prüfung und am nächsten Tag folgte Taneda ihm zum Markt. Der stattliche Samurai hob den Speer und richtete seinen Blick fest auf den Affen. Da wurde dieser plötzlich wie gelähmt, gab einen Schrei von sich und fiel auf den Boden, ohne dass Taneda seinen Speer geschleudert hätte. Der Samurai hatte einen lautlosen kiai angewendet, und auf diese Weise eine solche Kraft gezeigt, dass der Affe betäubt worden war.

       Kiai kommt in allen Budoarten vor. Meistens zeigt er sich mit einem Laut — einem kräftigen Schrei im Augenblick der Ausführung der Technik. Aber Kiai ist keinesfalls der Schrei selbst, sondern die Kraftansammlung, für die der Schrei ein Zeichen ist. Ein lautloser Kiai ist deshalb auch ein Kiai, wenn er auch schwerer zu beherrschen ist.


Sokaku Takeda.
Sokaku Takeda.


       Die zwei Wörter, aus denen Kiai zusammengesetzt ist, sind die selben wie in aiki. Die umgedrehte Ordnung ist wesentlich, sie weist auf eine andere Zielsetzung, eine andere Einstellung hin. In aiki ist es Ki, das zur Harmonie führen soll, im Kiai soll hingegen statt dessen die Harmonie zum Ki führen. Kiai bedeutet, die Lebensenergie Ki in eine Richtung zu bündeln, für einen Zweck. Man konzentriert sich voll und ganz auf das, was man ausführen soll und lässt alle seine inneren Ressourcen zusammengehen, um dieses Ziel zu erreichen. Kiai ist, all seine Kraft und sein Vermögen in einem Augenblick und einer Bewegung zu versammeln. Alles Ki eines Menschen strahlt zusammen und bekommt eine exakte Richtung, so wie in einem Laser der Rubin das Licht in einer schmalen, geraden Linie ausrichtet. Genau wie der Laser, so meinen die Asiaten, kann diese Ansammlung einen überwältigenden Effekt erzielen. Die Bewegung wird unwiderstehlich, die Schärfe von Wille und Technik wird so überwältigend, dass der Erfolg erreicht ist, bevor etwas geschehen ist.

       Das ist im Westen nicht unbekannt. Der Gewichtheber brüllt, wenn er die gewaltigen Gewichte hochheben soll, der Ringer, wenn er seinen Gegner zu Boden werfen will. Der Schrei ist eine allgemein bekannte Methode, um extra Kraft zu gewinnen, um Schmerzen zu ertragen oder um andere Menschen zum Gehorchen zu bringen oder sie aufzuhalten. Mark Twain witzelte darüber, als er berichtete, wie seine stolzen Vorväter immer singend in den Kampf gingen, wenn sie im letzten Glied waren, und wie sie schreiend aus dem ersten Glied davonliefen.

       Nun, dieser Schrei ist das äußere Zeichen dafür, dass man seine Kraft sammelt und sie fließen lässt. Wenn man nicht schreien würde, so könnte es leicht pasieren, dass die Kehle und die Atmung den Ansturm von Kraft aufhielten und man seine Kraft ersticken würde. Wenn man wirklich anpacken muss, ist es natürlich, die Kehle zu öffnen und den Laut kommen zu lassen. Im Budo wird dieser Schrei trainiert, so dass er unbehindert kommt und dem Trainierenden dabei hilft, seine inneren Kräfte aufs Äußerste zu mobilisieren.

       Wir wissen aus der medizinischen Wissenschaft, dass das Adrenalin die Methode des Körpers ist, die äußersten Reserven des Körpers zu sammeln. Kiai ist eine Methode, das Adrenalin zu stimulieren, augenblicklich die eigenen Ressourcen zu steigern, so dass diese das übertreffen, was man normalerweise schaffen kann.

       Natürlich soll der Schrei aus dem Bauch kommen, aus dem Ozean an Ki, und viel mehr sein als nur ein Laut. Das Volumen ist keinesfalls das Primäre. Wenn man sich zu sehr anstrengt, um ein tierisches Gebrüll zustandezubringen, stockt die Kraft in der Kehle und findet nicht zu der Bewegung, auf die Kraft abzielte. Der Laut ist einfach das unabsichtliche Resultat der Kraftansammlung, und nicht andersrum. Wenn man Kiai übt, geht es also nicht darum, den Schrei selbst zu trainieren, sondern die Ansammlung von Kraft — um augenblicklich seine Energie mobilisieren und sie nach vorne schicken zu können.

       Kiai wird eine reinigende, selbstreinigende Übung. Wenn man all sein Ki in einem einzigen Augenblick und einer Bewegung verausgabt hat, wird man wie leer. Knoten lösen sich, Zerstreuungen hören auf, die Sinne festzuhalten, und man steht voraussetzungslos da, gesammelt und bereit für das, worauf man seine Aufmerksamkeit richtet.

       Man kann sagen, dass es drei verschiedene Augenblicke für den Kiai gibt, mit drei in gewisser Weise unterschiedlichen Zielen: vor der Bewegung, während der Bewegung, am Ende der Bewegung. Ein Kiai vor der Bewegung, wie ihn der Samurai lautlos von sich gab, statt den Speer auf die Meerkatze zu schleudern, dient teils dazu, den eigenen Sinn zu erhöhen und zu reinigen, teils dazu, den Partner aus seinem Gleichgewicht zu bringen. Er ist eine glänzende Methode um zu markieren: "Hier bin ich!", so dass man selbst Stolz und Vermögen darin findet und der Partner im selben Grad erschreckt wird, sich duckt.


Toshikazu Ichimura. Foto: Magnus Hartman.
Toshikazu Ichimura. Foto: Magnus Hartman.


       Kiai während der Bewegung macht diese kraftvoll und scharf, so dass sie ihr Ziel erreicht und nicht schwankt oder vom Partner weggeschlagen wird. Das Gefühl in diesem Kiai ist unwiderruflich und unausweichlich. Mit einer solchen Überzeugung wird es schwer für den Gegner, auszuweichen, und genauso schwer, sich zu wehren.

       Am Ende der Bewegung ist Kiai eine Art, die Vollendung zu markieren, genau in diesem endgültigen Augenblick wie eine Explosion von Kraft und Konzentration zu sein. Ein solcher Kiai lässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass der Kampf vorbei ist, dass das Erzielte erreicht ist und nicht ungetan werden kann. Es ist so, wie wenn Beschluss und Handlung eins geworden sind.

       In Karatedo wird oft die dritte Sorte von Kiai angewendet, zum Beispiel wenn die ungeschützte Hand ihr Ziel trifft, um sie zu stärken und zu verhindern, dass sie verletzt wird. Die Schwertkunst Kendo hat einen Kiai, der durch alle drei Zeitpunkte läuft, von der ersten Angriffsbewegung und lang über den Treffer hinaus, wie ein Unterstreichen der Technik und des Unvermeidlichen von deren ganzem Verlauf, und ein Nachklang, der — wie ein Siegesschrei — besagt, dass der Kampf nun vorüber ist. Im Aikido ist Stille das Gewöhnlichste, aber wenn ein Kiai vorkommt, dann ist das immer gleichzeitig mit der Bewegung. Die Stille bedeutet natürlich nicht, dass der Kiai fehlt. Er wird oft lautlos, da Aikido versucht, nur der Kraft des Angreifers zu folgen und deshalb eins mit dem Kiai des Angreifers zu sein.

       In Aikido ist es deshalb undenkbar, um nicht zu sagen unmöglich, den armen Affen aufzuspießen.

       Morihei Ueshiba gab so gut wie die ganze Zeit Laute von sich, all sein Aikido wurde von Rufen und unterschiedlichen Tönen begleitet. Diese waren ihrer Natur nach gewiss Kiai, aber sie hatten auch einen anderen Inhalt. Ueshiba war tief engagiert in der japanischen Mystikphilosophie kototama, wo jeder Lauttyp seinen höheren Gehalt hat. Seine Kiai waren also sowohl Kraftansammlungen als auch eine Methode, bestimmte Bedeutungen auszudrücken, mit einer höheren Wirklichkeit eins zu werden.

       Es wird natürlich auch so, dass eventuelle Laute, die mit dem Kiai kommen, ihre Prägung davon bekommen, was man mit dem Kiai bewirkt, welche Einstellung dahinter liegt. Der Kiai des Angreifers lautet immer anders als der des Verteidigers, ebenso unterscheiden sich Kiais voneinander, je nachdem welche Technik ausgeführt wird. Am deutlichsten merkt man das in Kendo, wo die Ausübenden ganz einfach den Namen der zu treffenden Körperstelle als Kiai für ihre Bewegungen anwenden. Der Angriff gegen den Kopf heißt men, was Kopf bedeutet, gegen das Handgelenk kote und gegen den Bauch do. Ebenso gibt es wohl eine Erklärung dafür, dass viele, die Karatedo trainieren, bei ihrem Kiai schreien: "Kiai!"


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Aikido — die friedliche Kampfkunst.

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VORWORT
Vorwort zur zweiten Auflage


DIE PRINZIPIEN DES AIKIDO
Die unmögliche Kampfkunst
Kein Gegner, kein Kampf
Morihei Ueshibas Weg
Wasser, Luft und Vakuum
So wie die Jungen
Weiblicher Vorteil
Von sich werfen
Können oder lernen
Hier und jetzt
Gemeinsame Fahrt
Die Sache mit der Selbstverteidigung
Wohlbehagen


DIE GRUNDLAGEN DES AIKIDO
Do — der Weg
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Ai — Harmonie
Dreieck, Kreis und Quadrat
Tanden — das Zentrum des Körpers
Aiki — Rhythmus und Richtung
Kiai — Kraft sammeln
Kamae — die perfekte Stellung
Kokyu — Bauchatmung
Ma-ai — der sichere Abstand
Irimi, tenkan — nach innen, nach außen
Omote, ura — Vorderseite, Rückseite
Gotai — statisches Training
Jutai — weiches Training
Ki nagare — fließendes Training
Zanshin — der ausgestreckte Geist
Uke — der geführt wird
Keiko — trainieren, trainieren, trainieren
Takemusu — grenzenlose Improvisation
Nen — eins mit dem Augenblick
Kototama — die Seele der Wörter


AIKIDO — die friedliche Kampfkunst
Stefan Stenudd

Übersetzung: Sabine Neumann
© Stefan Stenudd 2006. Arriba Verlag.

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Stefan Stenudd

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I'm a Swedish author of fiction and non-fiction books in both English and Swedish. I'm also an artist, a historian of ideas, and a 7 dan Aikikai Shihan aikido instructor. Click the header to read my full bio.