Irimi, tenkan -
nach innen, nach außen

Järfälla 1973. Foto: Stefan Stenudd.
Järfälla 1973. Foto: Stefan Stenudd.


Eigentlich gibt es nur zwei Positionsveränderungen, zwei Schritte im Aikido: nach innen und nach außen, wie in der Atmung. Und wie in der Atmung sollen diese mit der Zeit zusammengleiten und zu Einem werden. Aber zuerst muss man den Unterschied zwischen ihnen verstehen.

       Der Schritt nach innen wird irimi genannt und liegt in seiner Natur der Mentalität des Angreifers am nächsten. Man geht so gut wie direkt auf den Partner zu, direkt in seine Sphäre hinein. Wenn man angreifen soll, gibt es keine andere Möglichkeit, aber auch in der Verteidigung verfährt man so, um zuvorzukommen, um den Angriff zu kontern bevor er vollendet ist. Die Kühnheit zu diesem Schritt nach vorne, einem kraftvollen Angreifer entgegen, zu haben, das ist einer der innersten Kerne des Budo — so schwer einem dieser Schritt fallen kann, so viel hat man durch ihn zu gewinnen. Irimi ist der Schlüssel für die Einsicht des Budo, dass der Angriff die schlechteste Verteidigung ist, dass der welcher angreift, eben dadurch dem Verteidiger unterlegen ist. Das kanji für irimi besteht aus dem Zeichen für hineingehen oder durchdringen und dem Zeichen für Körper, man geht also mit dem Körper hinein.

       Der Schritt nach außen wird tenkan genannt und stimmt besser mit der Situation und der milden Strategie des Verteidigers überein. Das Schriftzeichen besteht aus dem kanji für wälzen oder umwenden sowie für ändern. Hier geht man vom Angreifer weg, um ihn herum und hinter ihn. Auf diese Weise entkommt man dem Angriff und hat mit einer kreisförmigen Bewegung seine Verteidigung, seinen Gegengriff eingeleitet. Der Angreifende gerät in die Peripherie der Sphäre des Verteidigers.


Lennart Linder c. 1980. Foto: Göran Marin.
Lennart Linder c. 1980. Foto: Göran Marin.


       Sagen wir, dass die zwei Kontrahenten durch ein Seil miteinander verbunden sind — der Angreifer am einen Ende und der Verteidiger am anderen. Die Länge des Seils, der Abstand zwischen den beiden, kann zweckmässigerweise dieselbe sein wie ein korrektes ma-ai, ungefähr anderthalb Meter. Der Schritt des Angriffs steuert direkt gegen den Angegriffenen, der sich seitlich nach vorne bewegt, fast zu der Position, von der aus der Angreifer begann. Das Seil wird erneut gespannt, die Kontrahenten haben den Platz gewechselt, aber die Dynamik der Bewegung ist derart, dass es nicht erneut zwei Sphären mit je einem Zentrum gibt. Statt dessen gerät der Angreifer in die Peripherie des Angegriffenen und kann so selbstverständlich herumgeleitet werden, so wie die Planeten um die Sonne kreisen. Das beruht vor allem darauf, dass der Verteidiger zusieht, dass die Bewegung nicht nach dem Angriffsschritt aufhört, sondern sich in einem Bogen fortsetzt. Das erinnert an ein störrisches Pferd in der Manege — es wird mit dem Zaumzeug gezwungen, in der Peripherie des Kreises des Dresseurs zu verbleiben, anstatt in seiner eigenen Sphäre verharren zu können.

       Ja, es ist wunderlich, dass das funktionieren kann. Man muss es in der Praxis ausprobieren, um diese findige Dynamik zu entdecken. Aber so ist es — der Anfallende verliert seine Kontrolle, gerade weil er der Anfallende ist und weil der Angefallene mit seinem ausweichenden Schritt reagiert.

       Es ist leicht einzusehen, dass tenkan am stärksten mit den Prinzipien des Aikido übereinstimmt, doch auch irimi wird angewendet. Aber es ist nie der Fall, dass der Schritt sich direkt gegen die Richtung der angreifenden Kraft bewegt, was nur in einem Zusammenstoß resultieren würde. Das irimi des Aikido geht schräg hinein, in einer ausweichenden Bewegung, genau wie tenkan schräg hinausgeht. Der Angriff des Partners geht vorbei, während der Verteidiger sich mit irimi vor den Körper des Partners und nahe an diesen heran stellt. Mit tenkan stellt sich der Verteidiger statt dessen daneben und so gut wie hinter den Angreifer.

       An sich ist fast jede Verteidigungstechnik eine Kombination aus den zwei Schritten: zuerst ein Schritt zur Seite und auf den Partner zu, dann ein Schritt herum und weg von ihm. Mit dem ersten Schritt entgeht man dem Angriff, mit dem zweiten leitet man den Konter ein, die Aikidotechnik selbst. Die zwei Schritte gleiten mit der Zeit zusammen zu einer einheitlichen Bewegung, fast einem einzigen Schritt.


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Aikido — die friedliche Kampfkunst.

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AIKIDO die friedliche Kampfkunst

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Vorwort zur zweiten Auflage


DIE PRINZIPIEN DES AIKIDO
Die unmögliche Kampfkunst
Kein Gegner, kein Kampf
Morihei Ueshibas Weg
Wasser, Luft und Vakuum
So wie die Jungen
Weiblicher Vorteil
Von sich werfen
Können oder lernen
Hier und jetzt
Gemeinsame Fahrt
Die Sache mit der Selbstverteidigung
Wohlbehagen


DIE GRUNDLAGEN DES AIKIDO
Do — der Weg
Ki — Lebensenergie
Ai — Harmonie
Dreieck, Kreis und Quadrat
Tanden — das Zentrum des Körpers
Aiki — Rhythmus und Richtung
Kiai — Kraft sammeln
Kamae — die perfekte Stellung
Kokyu — Bauchatmung
Ma-ai — der sichere Abstand
Irimi, tenkan — nach innen, nach außen
Omote, ura — Vorderseite, Rückseite
Gotai — statisches Training
Jutai — weiches Training
Ki nagare — fließendes Training
Zanshin — der ausgestreckte Geist
Uke — der geführt wird
Keiko — trainieren, trainieren, trainieren
Takemusu — grenzenlose Improvisation
Nen — eins mit dem Augenblick
Kototama — die Seele der Wörter


AIKIDO — die friedliche Kampfkunst
Stefan Stenudd

Übersetzung: Sabine Neumann
© Stefan Stenudd 2006. Arriba Verlag.

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Stefan Stenudd

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About me
I'm a Swedish author of fiction and non-fiction books in both English and Swedish. I'm also an artist, a historian of ideas, and a 7 dan Aikikai Shihan aikido instructor. Click the header to read my full bio.